Ökologische Ökonomie: eine neue Wissenschaft?

Ökologische Ökonomie: eine neue Wissenschaft?

Tagungsbericht zur VÖÖ-Jahrestagung 2004 von Fred Luks, Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, Projekt NEDS – Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik
Welche Funktion kann die Wissenschaft in einer sich wandelnden Welt haben, wenn das Ziel eine nachhaltige Entwicklung ist? Welche Rolle kann die Ökologische Ökonomie in diesem Zusammenhang spielen? Inwieweit ist sie eine „neue Wissenschaft“, die zur Lösung wichtiger Gegenwarts- und Zukunftsprobleme Beiträge leisten kann? Diese und andere durch das Leitbild „Nachhaltige Entwicklung“ provozierte Fragen an die Wissenschaft im Allgemeinen und die Ökologische Ökonomie im Besonderen waren Gegenstand der kleinen, thematisch breit angelegten und inhaltsreichen Tagung „Ökologische Ökonomie: eine neue Wissenschaft?“, die von der Vereinigung Ökologische Ökonomie (VÖÖ) vom 6.-8. Mai 2004 in Heidelberg ausgerichtet wurde.
Die Ökologische Ökonomie befasst sich mit Ganzheiten ebenso wie mit spezifischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Problemen. Sie sieht sich selbst als offenen Suchprozess, der zum Suchprozess „Nachhaltige Entwicklung“ praktikable Lösungen beitragen will. Diese normativ und im Hinblick auf die Vision einer nachhaltigen Entwicklung motivierten Charakteristika der Ökologischen Ökonomie als „neuer Wissenschaft“ erwiesen sich als guter Ausgangspunkt für einen drei Tage langen Diskussionsprozess, an dem sich über 30 WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen und unterschiedlicher Generationen intensiv beteiligten. Einmal mehr war der „Heidelberg-Spirit“ der Jahrestagung zu spüren – der intensive Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen den Sitzungen war ebenso wichtig wie die „offziellen“ Plena und Arbeitsgruppen.
Eine zentrale Scharnierstelle für die Verbindung von Wissenschaft und Nachhaltigkeit ist die disziplinäre Organisation von Forschung und Lehre. Wenn die Wissenschaft nicht nur Teil der Probleme, sondern Teil der Lösungen sein will, muss sie eben diese Disziplinarität hinterfragen und sich auf Debatten zum Status von Mono-, Multi-, Inter- und Transdiziplinarität einlassen. Die Tatsache, dass ein analytisch, partikularisierend und disziplinär ausgerichteter Wissenschaftsbetrieb vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeitsproblemen an Überzeugungskraft verliert, war ein wiederkehrendes Thema. Es gehört zu den Grundannahmen der Ökologischen Ökonomie, dass eine an Nachhaltigkeit orientierte Reform von Gesellschaft und Wirtschaft mit einer Reform der Art und Weise einhergehen muss, mit der Wissenschaft betrieben wird. Zu thematisieren ist in diesem Zusammenhang mithin „Kultur“ als Ganzes, und auch dies wurde auf der Tagung versucht. Zu fragen war also, wie eine neue Wissenschaft und eine neue Wissenschaftskultur aussehen können, und welche Bedeutung der Ökologischen Ökonomie in diesem Zusammenhang zukommt. Gegenstand dieser Tagung war mithin nicht das Kleinteilige und Detaillierte, sondern das Große und Ganze. Mit seinem Vortrag „Auf dem Weg zu einer neuen Ökonomie – Auf dem Weg zu einer neuen Wissenschaft?“ führte Peter Plöger (Bielefeld) in das Tagungsthema ein und spannte dabei einen weiten Bogen von der historischen Entwicklung der Wissenschaft als einem disziplinär organisierten Gebilde bis zu aktuellen Problemen. Zwei weitere Plenumsbeiträge konkretisierten Themen und Fragestellungen. Peter Finke (Bielefeld) stellte die Frage „Was heißt Çneue Wissenschaft’“ und gab Antworten aus Sicht der Wissenschaftsforschung, während Christiane Busch-Lüty (Ebenhausen) „Herausforderungen einer Ökologischen Ökonomie an die Wissenschaft“ thematisierte.
Am Abend des ersten Konferenztages wurde erstmals der nach dem Ökonomen Karl William Kapp benannte „Kapp-Forschungspreis für Ökologische Ökonomie“ vergeben. Dieser Preis wird im zweijährigen Turnus gemeinsam von der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ), der Kapp-Stiftung, der Hatzfeldt-Stiftung sowie der Forschungsgesellschaft anstiftung vergeben und dient der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung. Aus zahlreichen zum Thema „Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung“ eingereichten Studien wurden zwei prämiert: Der Geograph Michael Flitner wurde für seine von der Universität Freiburg angenommene Habilitationsschrift „Lärm an der Grenze. Eine Studie über Fluglärm und Umweltgerechtigkeit am Beispiel des Flughafens Basel-Mulhouse“ ausgezeichnet. Die Politikwissenschaftlerin Dagmar Vinz erhielt die Auszeichnung für die im Rahmen ihrer Promotion an der Freien Universität Berlin erstellte Studie „ÇVerzehrte Zeiten‘ – Ubiquität und Temporalität des Ernährungssystems aus der Perspektive der Umwelt- und Geschlechterforschung“. Die Jury des Preises ist interdisziplinär besetzt und besteht aus Fachleuten der Ökonomie, Ökologie, Soziologie, Wissenschaftstheorie und Kulturwissenschaft. Das Auswahlverfahren steht mit dem Tagungsthema „Neue Wissenschaft“ also ebenso in Bezug wie die beiden ausgezeichneten Arbeiten, die nicht zuletzt durch einen problemorientierten, Disziplinen übergreifenden Ansatz geprägt sind.
Im Zentrum des zweiten Konferenztages standen die Arbeitsgruppen, in denen vier Themenblöcke vertieft diskutiert wurden. Die AG „Weltbilder reflektieren“ tat genau dies – sie überdachte unterschiedliche wissenschaftliche Weltbilder und ihre „Brauchbarkeit“ für eine am Nachhaltigkeitsleitbild orientierte Wissenschaft. Die AG „Ökologische Ökonomie kommunizieren“ wandte sich dem Problem zu, wie wissenschaftliche (vor allem: ökologisch-ökonomische) Fragestellungen und Konzepte erfolgreich in der Öffentlichkeit kommuniziert werden können. Im ökologisch-ökonomischen Diskurs ist es ein Gemeinplatz, dass man „Institutionen verändern“ muss – die gleichnamige Arbeitsgruppe thematisierte institutionellen Reformbedarf ebenso wie die Frage nach der Definition und theoretischen und praktischen „Bearbeitbarkeit“ von Institutionen. „Transdisziplinarität praktizieren“ schließlich war ein AG-Thema, in dem vor allem Fragen transdisziplinärer Forschung und Qualifikation in disziplinären Strukturen thematisiert wurden. Hier kamen nicht zuletzt NachwuchswissenschaftlerInnen zu Wort, die sich mit Disziplinen übergreifenden und praxisorientierten Forschungsarbeiten qualifizieren wollen und dabei bemerkenswerte Erfahrungen mit (Hochschul-)Institutionen machen konnten. Wichtiges Thema dieser AG waren auch die Grenz-Ziehung zwischen verschiedenen Disziplinen übergreifenden Herangehensweisen und die Pluralität von Vorstellungen darüber, was genau Transdisziplinarität bedeutet.
Der bei VÖÖ-Tagungen stets stattfindende Empfang im Heidelberger Rathaus stand ebenfalls im Zeichen eines grundsätzlichen Nachdenkens über Wissenschaft und die Grenzziehungen, die sie funktionieren lassen, aber auch zu Problemen führen. Walther Zimmerli, Gründungspräsident der VW AutoUni in Wolfsburg, verkörpert schon in seiner Person einiges, das das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Wissenschaft charakterisiert oder charakterisieren sollte: Er ist nicht nur ein philosophischer Grenzgänger, der sich mit einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Probleme befasst hat, sondern auch ein erfolgreicher Wissenschaftsmanager. Sein launiger Festvortrag „Paradoxien der Nachhaltigkeit – Wissenschaft jenseits ihrer eigenen Grenzen“ thematisierte die Spannung zwischen Nachhaltigkeitszielen und Wissenschaft. Zimmerlis gedankenreiche Ausführungen waren für alle Teilnehmenden anregend, für einige auch sehr provokativ.
Der letzte Konferenztag begann mit einigen Überlegungen von Beate Weber, Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg, zur praktischen Nachhaltigkeitspolitik auf regionaler Ebene. Daran anschließend wurden die Ergebnisse aus den Arbeitsgruppen präsentiert und diskutiert. Der letzte Plenumsbeitrag war ein „Praxisbericht“ von Sabine Höhler und Fred Luks (beide Hamburg) zum Thema „Transdisziplinarität als neues Weltbild?“. Die Praxis, aus der Höhler und Luks berichteten, ist die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte sozial-ökologische Forschung (SÖF), in deren Rahmen beide über „Nachhaltige Entwicklung zwischen Durchsatz und Symbolik“ forschen. Der Vortrag stellte Bezüge her zwischen den Diskussionspunkten der Tagung und dem Alltag interdisziplinären Forschens in einer nach wie vor disziplinär strukturierten Umgebung. Dieses Spannungsfeld sei anstrengend, biete aber auch ein überaus interessantes Betätigungsfeld. Darüber hinaus wurden in diesem Vortrag die Vorzüge und Tücken einer konstruktivistischen Perspektive herausgearbeitet.
Die Plenarvorträge und die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden in Kürze von der VÖÖ in der Reihe „Beiträge und Berichte der Vereinigung für Ökologische Ökonomie“ publiziert werden (https://www.voeoe.de). Was die Tagung sehr deutlich gemacht hat: Der „Querschnittscharakter“ des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung stellt nicht nur die Politik vor große Herausforderungen, sondern eben auch die Wissenschaft. Und ebenso wie der politische Bereich sind Forschung und Lehre durch die Nachhaltigkeitsdebatte mit Problemen konfrontiert, die ihr Selbstverständnis auf fundamentale Weise berühren. Das Programm der „sozial-ökologischen Forschung“ des Bundesforschungsministeriums ist hier ebenso zu nennen wie das Aufkommen neuer Paradigmen wie der Ökologischen Ökonomik. Die Notwendigkeit, auch jenseits technischer Entwicklung innovativ sein zu müssen, ist eine bleibende Herausforderung für alle Anstrengungen im Hinblick auf Zukunftsfähigkeit. Dass die Wissenschaft hier wichtige Beiträge leisten kann, wenn sie sich auf inter- und transdisziplinäre Debatten einlässt, hat die Tagung auf beeindruckende Weise gezeigt.